Es gehört wohl tatsächlich zu den gelesenen Büchern – Bölls Irisches Tagebuch in inzwischen die Millionengrenze überschrittener Auflage verbreitet, zählt unrevidierbar zu den Klassikern der Reiseliteratur. Der Reiseliteratur? Nur? Sicherlich sind die geschilderten Reisebewegungen, Beobachtungen, Gespräche und skizzenhaft eingefangenen Mentalitäten der unmittelbar greifbare Inhalt des Buches. Aber nicht nur. Von einem ruhigen Ton von Kontemplation zusammengehalten scheinen die Vorfälle, Reflexionen und Erscheinungen durch die Sprache gleichsam die Stationen eines Bilderzyklus zu durchlaufen, zu deren Entdeckung die Lektüre den Lesenden macht. Der Hinweis ist nicht beliebig. In keinem anderem seiner Bücher hat Böll so explizit wie im Irischen Tagebuch darauf hingewiesen, daß es ein Buch der die ihre Umgebung sinnhaft erschließenden Sinne ist. Gleich der Einleitungssatz hebt dies deutlich hervor: »Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte.« Sinnlicher Sinn und sinnhafte Sinnlichkeit vereinen sich in dieser Weise beispielhaft in der Begegnung mit den Überresten eines verlassenen Dorfes auf Achill Island, der irischen Insel, die Böll nach seinem ersten Aufenthalt in Irland 1954, ab 1955 mit seiner Familie noch oft besuchen sollte. Obgleich in den mitgelieferten topographischen Marken oder dem andeutungsweise aufgerissenen sozialgeschichtlichen Hintergrund allen Realismus aufbietend, ist diese Schilderung ein Lehrstück für die in der Begegnungen mit dem Unverhofften erweckte Imaginationsfähigkeit, Phantasiefähigkeit der Augen, Wirklichkeit nicht nur wiederzugeben, sondern, das was >wirklich< ist, >sichtbar< zu machen. Nicht von ungefähr hat Böll diesen von Paul Klee formulierten Grundsatz der Kunst auch im Irischen Tagebuch als Maßstab seines literarischen Arbeitens genommen. Bölls Irisches Tagebuch ist nicht nur ein Buch des Reisens, es ist auch ein Buch, oder besser noch eine Schule des Wahrnehmens, des Wahrnehmens des Anderen, exemplarisch vor- und dargestellt in vielfältig eingefangenen literarischen Miniaturen. Vielleicht liegt darin, daß es erfahrbar macht, was »Etwas-Sehen« sein kann, daß dem Irischen Tagebuch seit seinem Erscheinen vor fünfzig Jahren unausgesetzt seine Leser begeistert. »Dieses Buch«, so in dem offenkundig von Bölls selbst verfaßten Klappentext der Erstausgabe, »ist nicht im herkömmlichen Sinne ein >Buch über Irland<, es beansprucht nicht, über die komplizierte Geschichte, die ebenso komplizierte ökonomische Situation dieses kleinen Staates westlich von England Auskunft zu geben und als Reiseführer in die vielfältige Schönheit und landschaftliche Eigenart Irlands zu dienen; es ist der Versuch, in verschiedenen Prosastücken, in komprimierter Form, ein Land darzustellen, indem sich ständig das Süße mit dem Bitteren mischt, das Bittere mit dem Süßen, Gebete mit Fluch, ein Land, in dem die Poesie auf der Straße liegt […]. Der totale Gegensatz zu Deutschland wirkte auf den Verfasser wie eine Provokation, gerade dieses Land in die deutsche Sprache aufzunehmen, es in ihr zu porträtieren, etwa in der Form eines Mosaiks, keiner realistischen Nachbildung, da der porträtierte Gegenstand andere als realistische Sprachräume erforderlich gemacht hätte.«
Als das Irische Tagebuch 1957 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien, traf das es auf eine nicht wenig überraschte Rezensentenschar, die wohl anderes erwartet hatten. Ein >neuer<, gar ein endlich >zu sich selbst gekommener< Böll, der sich vom Mief der Waschküchen befreit habe, wurde gefeiert. Unter den vielen in dieser Art mißverstehenden Rezensenten fanden sich aber auch andere, die Bölls Intention verstanden hatten. So schrieb etwa Bölls Schriftstellerkollege und Freund Alfred Andersch: »Dieses kleine Meisterwerk einer durch und durch humanen Schreibweise versetzt seine Leser in ein Land der Armut, der Anarchie, des Katholizismus und des Humors, mit anderen Worten in eine Böllsche Utopie, die sich von gewöhnlichen Wunschträumen aber dadurch unterschied, daß sie Wirklichkeit war.« Damit hatte er zweifellos recht.
Jochen Schubert, 2007
Rolf Becker: "Weil nichts geschah. - Heinrich Bölls Irisches Tagebuch"
Wenn Dichter fremde Länder reisend und beschreibend "erobern", so ist dieser Vorgang das gerade Gegenteil einer militärischen Eroberung: Die Aktion richtet sich in den meisten Fällen nach rückwärts, gegen das eigene Land. Im Bilde des Auslands wird die Heimat getroffen, das Gegenbild ist gemeint, oft mit pädagogischer Absicht. Mehr oder minder ist so jede reisende Welterfahrung eines bedeutenden Schriftstellers auch ein Stück Selbsterziehung der Nation.
Dabei haben nun die verschiedenen Länder zu verschiedenen Zeiten ihre verschiedenen "Gegen-Länder", und es ist aufschlußreich und bezeichnend, welche sie haben. Natürlich ist es auch oder vielmehr zuerst bezeichnend für die Individualität des Schriftstellers. Goethe und Heine in Irland? Undenkbar. Heinrich Böll in Italien, unter Hunderttausenden von deutschen "Gesellschaftsreisenden", die dort allsommerlich ahnungslos in den Spuren der Klassik einhertrampeln? Undenkbar. - Daß Heinrich Böll sich und uns Irland "erobert" hat, ist bezeichnend für diesen Schriftsteller und für dieses Deutschland. Und so ist sein "Irisches Tagebuch" auch insgeheim ein Buch über Deutschland.
Das Bild der deutschen Gegenwart steht wie ein Schatten hinter der - Darstellung Irlands - nein, man muß es bezeichnenderweise umgekehrt ausdrücken: Das Bild Irlands, wie Böll es zeichnet, ist ein dunkles, das die allzu grell illuminierte deutsche Gegenwart beschattet. Irland, die katholische "Insel der Heiligen", gekennzeichnet durch eine " überwältigende Frömmigkeit" und durch Rekorde im Whiskysaufen und Zigarettenrauchen, im Priesternachwuchs und Kinobesuch, ist für den katholischen Nonkonformisten Böll zur zweiten Heimat geworden. Solcherart Paradoxien ziehen ihn an. Sie gehören zum Grundmuster seines Dichtens und auch dieses Berichts.
Der Antimilitarist liebt in den Iren das "einzige Volk, das nie Eroberungszüge unternahm", der Sozialkritiker das Land, wo Armut "nicht nur keine Schande mehr, sondern weder Ehre noch Schande" ist, wo sie "als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins so belanglos wie Reichtum" wird. Dabei sind Armut und Schmutz hier, stellt der Realist fest, wirklich nicht mehr "malerisch" wie etwa in den südlichen Ländern. "Regen fällt über die Armut." Und Böll beschreibt die Slums in Dublin, die heute noch genauso schrecklich sind wie zu Swifts Zeit. Der Antiaktivist, der Kritiker des Wirtschaftswunders kritisiert die obligaten Redensarten irischer Resignation: "Es könnte schlimmer sein" und "Ich würde mir keine Sorgen machen". Er entdeckt kurz nach seiner Ankunft in diesem Land, wo die Leute Joyce, Yeats, Beckett, Molloy und O'Neill heißen, in einem Buchkiosk Gontscharows "Oblomow" und kauft ihn. Er beschreibt den vollkommen passiven Verfall verlassener Dörfer und Häuser, keine Hand rührt sich zu Abbruch und Verwertung, der Zeit bleibt alles überlassen.
Das Erlebnis der irischen Zeit, das intensive Erlebnis der Zeit in Irland ist vielleicht das Entscheidende, auch der entscheidende Gehalt dieses Buches. Böll umkreist das Thema einmal humoristisch, wenn er von der in den Kneipen "stillgelegten" Polizeistunde berichtet, im übrigen aber faßt er es mit fasziniertem Ernst: "Die Zeit ging schnell herum, weil nichts geschah." Die Zeit an sich wird hier zum Erlebnis, kann es hier werden, befreit vom zerrenden Tempo. Dieses Erlebnis ist ein durchaus metaphysisches. Es ist außerdem für den Epiker relevant. In der sozialen Sphäre aber bedeutet das irische "Zeitverhältnis": Improvisation. "Denn die Gegenwart", schreibt Böll, "hat hier mehr Gewicht als die Zukunft: doch dieses Übergewicht dessen Folge Improvisation an Stelle der Planung ist, dieses Übergewicht wird mit Tränen aufgewogen."
Improvisation an Stelle von Planung: Darum vor allem liebt Böll Irland und stellt sein Bild unserer deutschen - zivilisatorisch durch und durch geplanten Wirklichkeit entgegen. Weil man in Irland "hat", was uns anhanden kam, Zeit an sich, darum liebt er dieses Land, das er so wundervoll sinnlich, mit soviel atmosphärischer Intensität, so humorvoll auch und so dramatisch zu schildern versteht - weil jenes eigentümliche Verhältnis zur Zeit für ihn ein Mehr an Menschlichkeit bedeutet.
Kölner Stadt-Anzeiger v. 18.05.1957
Gert Kalow: Irland als Exempel
Mit seinem "Irischen Tagebuch" stellt sich Böll, erfolgreichster Roman- und Storyautor unserer jüngeren Schriftstellergeneration, zum ersten Mal als Privatmann vor. Er berichtet von einem Ferienaufenthalt. Der Leser wird eingeladen, den Autor nebst Frau und Kindern auf dem Schiff, im Zug, im Auto oder beim Spaziergang zu begleiten. Wer allerdings einen traditionellen Reisebericht erwartet, sieht sich rasch enttäuscht. Private Plaudereien sind nicht Bölls Sache. Hinter seiner Schilderung steht der gleiche expressionistische Impuls wie hinter seinen Romanen: ein Pathos des Heraushebens verborgener Realitäten. Böll verwendet die eigenen Erlebnisse nur als knapp angedeuteten Rahmen, der Ferienbericht gerät ihm unter der Hand zu einem Bilderbuch, ja zu einem Roman Irlands. In achtzehn kurzen, "gezielten" Kapiteln wird jeweils ein Eindruck, eine Beobachtung wiedergegeben und ins Typische gesteigert, etwa ein Kirchgang in Dublin, das Leben in einer Dorfkneipe, Auswandererabschied, Kinobesuch, ein verfallenes Dorf. Der Text bildet die zeitliche Kontinuität der Reise nicht ab, er läßt sie nur durchscheinen. Die Kapitel oder besser Bilder sind auf Kontrastwirkung hin gegeneinander verkantet, ihr Schnitt hat fast etwas Filmisches, sie ergänzen und steigern sich zu einer Gesamtansicht Irlands, die in gleichem Maße realistisches Porträt und Vision ist.
"Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte", dieser erste Satz mit seinen drei Verben gibt den Tenor an. Nicht die "Reiseerzählung" sondern die mit allen Sinnen aufgegangene Atmosphäre des Landes stellt die Einheit des Buches her. Weißliches Blau des Himmels, melancholisches Grün der Wiesen und Moore, verwittertes Grau der Felshügel, der Küste, der natursteinerbauten Dörfer und Städte, salziger Meergeruch - mit hoher Ausdrucksmacht weiß Böll das alles zu beschwören und ständig präsent zu halten, ohne doch der Landschaftsschilderung einen poetisch-romantischen Selbstzweck zuzugestehen. Die natürliche Szenerie dienst als Hindergrund, sie taucht die menschliche Szene in ihr eigenartiges Licht. Selbst historische Erinnerungen und soziologische Daten, wie Böll sie einflicht, scheinen von diesem Licht gefärbt: eine Mischung von spanischem und norwegischem Himmel. die Iren kämpfen nicht nur mit der Armut ihres Bodens, mit industrieller Unterentwicklung, die zu ständigen Massenauswanderungen zwingt sie kämpfen auch mit der Schwere des weiten atlantischen Himmels. Ein Kampf, in welchem, laut Böll, der Whiskey, vor allem aber eine tiefverwurzelte Frömmigkeit tragende Rollen spielen.
Ein "Roman Irlands", ein zur Dichtung erhobener Bericht, aber dennoch ein höchst persönliches Buch. Weniger in einem autobiographischen Sinn als vielmehr im Sinne von Bekenntnis, von geistiger Standortbestimmung des Autors. Bölls Liebe zu Irland ist kein Zufall. Den entschiedensten Katholiken unter unseren jüngeren Dichtern, dessen schriftstellerische Vorbilder fast ausschließlich zur englischsprechenden Welt gehören, mußte das einzige rein katholische Land englischer Zunge a priori anziehen. Das melancholische, schwerflüssige, groteske Stimmungen fördernde Klima mag hinzugekommen sein, um dem schwerblütigen Ekstatiker Böll dieses Land als eine Art Wahlheimat zu empfehlen. Hinzu kam die keineswegs nur geographische Insellage Irlands: am Rande Europas, meerumbrandete Festung, Schatzhaus ältester, andernorts längst überspielter Tradition, unberührt oder erst verspätet berührt von den großen Bewegungen, die das neuzeitliche Abendland formten: Aufklärung, Nationalismus, industrieller Kapitalismus. Man muß nicht Max Webers Untersuchungen über den ursächlichen Zusammenhang von Puritanismus und Entstehung des Kapitalismus gelesen haben, um zu begreifen, was es mit der Insellage des katholischen Irland auf sich hat. Hier begegnen sich, noch kaum verschmolzen, 13. und 20. Jahrhundert, hier stehen Swift (Verteidigung des Mittelalters) und Joyce (uferlose Aufklärung) gegeneinander und zugleich miteinander. Genau das ist Bölls Irland: eine von Meerluft und Auswanderertränen bittere Idylle, ein Ort des friedlich-hartnäckigen Kampfes um Ausgleich äußerster Gegensätze. Daß es neben diesem vielleicht noch ein ganz anderes Irland geben mag, fällt nicht ins Gewicht. Entscheidend ist, daß der deutsche Autor den inneririschen Vorgang als ein höchsteigenes Problem zu erleben und uns als Spiegel vorzuhalten vermag. Wie in allen seinen Arbeiten ist Böll auch im "Tagebuch" ein diskreter Polemiker. Er dosiert vorsichtig Sozialkritik und Kritik an einem pseudorevolutionären Intellektualismus, den er für heillos hält, um uns am Ende zu zeigen, wie dieses "rückständige", aber fromm gebliebene Irland mit seinen Gegensätzen, die den unseren in nicht weniger Hinsicht ähneln, besser fertig wird, einen ausgeglicheneren seelischen Haushalt hat als wir.
Heinrich Böll ist kein Autor, der aus Freude am Schreiben schreibt. Er schöpft immer aus dem Quell eines zentralen, existentiellen Anliegens. Nachdem er in seinen früheren Stories und Romanen ganz dem Kriegserlebnis und seiner Verarbeitung zugewandt war, scheint er mit dem "Irischen Tagebuch" eine neue, zweite Schaffensperiode begonnen zu haben, die unter der Leitidee Versöhnung von Aufklärung und Katholizität steht. [...]
Neue deutsche Hefte, September 1957
Walter Widmer: Ein bedeutsames "Tagebuch"
Wer das Glück hatte, im vergangenen Winter Heinrich Böll aus seinem "Irischen Tagebuch" vorlesen zu hören, der wird begierig nach dem nun vorliegenden Band greifen, seine Erinnerungen auffrischen und Unbekanntes kennenlernen.
Bölls stille, geistreiche, unpathetische Art blickt dem Leser aus jeder Zeile dieses ungewöhnlichen Tagebuchs entgegen. Man hört seine warme, verhaltene Stimmt, sieht seine unprätentiösen Gesten, seine bescheidene männliche Haltung, die so wohltuend von manchen "berühmten" Windmachern absticht. Man liest und liest, die vertrauten Kapitel, die "Betrachtungen über den irischen Regen", "Wenn Seamus einen trinken will...", "Als Gott die Zeit machte...", alle die unaufdringlich witzigen, wehmütig satirischen Gedanken und Meditationen über irisches Land, irische Menschen und irisches Wesen, und "bewegt sie in seinem Herzen".
Unwillkürlich fallen einem andere, frühere Äußerungen über Irland ein, bittere, gehässige, verzweifelte, in ihrer Trostlosigkeit würgende Äußerungen. Jonathan Swifts herzzerreißende Schrift, der "Bescheidene Vorschlag, zu verhüten, daß die Kinder armer Iren ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen", in dem er der Regierung nahelegte, die geschätzte Zahl jährlicher 120 000 Neugeborener den reichen Engländern als Speise anzubieten. Er erschien 1729 und hat offenbar bis heute nicht an Aktualität verloren, so wenig man es wahrhaben will. Swift rechtet mit Gott und den Engländern, er klagt an, mit beißendem Hohn, mit wildem Haß. Er schrieb seinen Gulliver, dessen erste zwei Bücher zum Kinderzeitvertreib zurechtgemacht wurden, dessen letzte zwei aber zum Qualvollsten gehören, was mit den politischen Verhältnissen Englands und Irlands Vertraute lesen können.
Heinrich Böll ist kein Jonathan Swift. Wie sollte er auch? Er ist ein kluger, sehender Deutscher, der die tausend Jahre Hitlers nicht so heil überstanden hat wie viele seiner Landsleute. Er trägt in seinem Herzen das Trauma der (so oft politisch mißbrauchten) Mitschuld - und in einem höheren Sinne sind wir alle mitschuldig an den Ereignissen, aus Blindheit, aus Bequemlichkeit, aus Gewinngier oder aus Dummheit - und kann nicht vergessen, was geschehen ist. Aber er ist kein billiger Selbstankläger: er macht es sich schwer. Hinter seinen farbigen, lebendigen Schilderungen, hinter seinen persönlichen Anmerkungen zum Thema Irland spürt man immer wieder das tiefe ehrliche Gefühl des Mit-Leidenden.
"Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor." Dieses Motto, das Böll seinem Buch voranstellt, ist kennzeichnend für Absicht und Standpunkt des Dichters. Hinter die Dinge zu blicken, die Urgründe durch scheinbar vordergründige Tatsächlichkeiten aufzuhellen, darin liegt ja Wesen und Aufgabe des echten Dichters. Und Böll ist ein Dichter von Gottes Gnaden, der keinerlei Pose nötig hat, um in unsere Herzen und in unseren Geist einzudringen. Wie wird da oft in einem knappen Nebensatz Wesentlichstes lebendig! Durch Tränen lächelnd, breitet er vor uns die kargen Schönheiten dieses armen Landes aus, dessen meiste Einwohner auswandern müssen, weil sie der Boden nicht zu ernähren vermag. Die Gottverlassenheit des strenggläubigen Irland, wie eindringlich ersteht sie vor uns in dem kurzen Dialog des Priesters und der Kellnerin aus London, die im ersten Kapitel zu lesen ist! Die Macht des Wortes, des sparsam verwendeten Wortes - und Böll meistert seine Sprache, nicht virtuos (denn das würde seinem ganzen Wesen widersprechen), sondern mit dem genialen Sinn für Maß und Werte, der dem echten Dichter eignet - wird einem auf Schritt und Tritt klar. Solche Anklagen treffen sicherer als donnernde Schmähreden penetrant zielstrebiger Politiker.
Fürwahr, ein Baedeker ist es nicht geworden, dieses "Irische Tagebuch". Noch weniger ein Hymnus oder eine Verherrlichung. Aber ein dichterisches Kunstwerk, bis ins einzelne erfüllt und gesättigt mit Wärme und Menschlichkeit. Wohl nur selten hat man wie hier das sichere Gefühl, daß scharfe Augen, klarer Verstand, ein lauteres Herz, wissendes Erleben und sachliches Bekennen den Dichter ausmachen. Unter dem vielen Mulmigen, das sich heute als Dichtwerk ausgibt und anpreist, steht dieses wunderschöne und konzessionslose Buch einzig da. Dabei ist Böll ein Erzähler von hohen Gnaden. Er weiß die toten Dinge zu verlebendigen, in einem schlagenden Dialog von wenigen Sätzen Weltanschauungen aufeinanderprallen zu lassen, in der Gestalt der beklommen wartenden Arztgattin nicht nur die Ängste einer nächtlichen Geburt, sondern auch das Auswanderungsproblem und vieles andere noch zu eindrücklichstem, lebendigstem Leben zu versinnbildlichen. Das ist nicht nur bewundernswert, es ist auch packend und unterhaltsam geschrieben - wenn man Unterhaltung nicht in seichten Zeittotschlagen sucht. Ohne Anstrengung kein innerer Gewinn - oft im Gegensatz zum äußeren Verdienen! Bölls Tagebuch aus Irland ist ein reicher innerer Gewinn, ein köstliches Geschenk, weil es uns zwei Länder näherbringt: Irland und - - Deutschland!
Basler Nachrichten, 7.6.1957
Heinrich Bölls Beschäftigung mit Irland beschränkte sich nicht nur auf das Irische Tagebuch und die Unterstützung seiner Frau bei den zahlreichen Übersetzungen irischer Autoren. Er schrieb auch das Drehbuch für die Fernsehsendung über Irland Irland und seine Kinder, begleitete das Filmteam nach Irland im Sommer 1960, half bei den nötigen Kontakten. Der Text, der bewusst kurz gehalten ist, umfasst nur 14 Seiten, ergänzt wurde er mit Musik und vor allem vielen Originalgeräuschen, häufig Meeresrauschen, von Böll ebenso wie häufige Kameraeinstellungen auf Meer und Landschaft als gestaltende Strukturmittel eingesetzt, die durch ihre Wiederholung fast wie eine Litanei wirken sollten. Heinrich Bölls Kenntnis der irischen Literatur kommt durch viele Bezüge und Zitate irischer Texte zum Ausdruck - von Verweisen auf Vertreter der iro-schottischen Mönchsmission wie Columban bis hin zu Gedichten von William Butler Yeats. Besondere inhaltliche Schwerpunkte sind das besondere Zeitverhältnis und die Auswanderungsproblematik in Irland. Hier weist das Fernsehdrehbuch deutliche Analogien zum Irischen Tagebuch auf. Irland ist das Land "Wo die Zeit kein vernünftiges Gesicht hat, nur ein Herz, einen Rhythmus und eine Melodie".
Der Film Irland und seine Kinder wurde am 8.3.1961 im ARD gesendet. In Deutschland war der Film ein großer Erfolg, in Leserbriefen äußerten die Zuschauer ihre Begeisterung lobten beispielsweise die "poetische Schilderung, die deshalb nicht weniger den Realitäten nachging, aber hinter den Realitäten die Atmosphäre spürbar werden ließ, wie es eben nur dem dichterischen Wort gegeben ist." ("Die poetische Reportage", Mangfallbote, 14.3.1961).
Nach den Angaben einer im Böllarchiv vorhandenen Dokumentation von infratest lag die Sehbeteiligung bei 47% und verzeichnete eine "noch günstigere Beurteilung als vor eineinhalb Jahren die beiden Irland-Sendung von Margrit (sic) Wagner".
Die englische Übersetzung wurde vier Jahre später in der Reihe "As others see us" im irischen Fernsehen gezeigt. In der Ankündigung im RTV Guide informierte Patrick Gallagher im Januar 1965 das irische Fernsehpublikum über Heinrich Böll (dessen Irisches Tagebuch ja erst 1967 ins Englische übersetzt wurde und der daher in Irland weitestgehend unbekannt war) und warnt, dass der Film die Sichtweise eines Poeten widerspiegelt und durchaus bei einigen Zuschauern für Skepsis sorgen könnte:
Essentially, the film is the view of a poet, and some of us believe that poetic truth beats literal truth hands down. That, however, is a subjective judgement of 'Children of Eire'. Viewers should watch for themselves. The odd ear may burn, but not many an eye will tire of the photo-imagination that pervades the film.
Dass diese Warnung ihre Berechtigung hatte, wurde in der anschließenden Studiodiskussion deutlich, harsche Kritik kam vor allem von Seiten des irischen Schriftstellers John O'Donovan. Er empfand die Darstellung Irlands und seiner Bewohner als zutiefst verletzend, weil sie das Bild einer "most hapless and helpless and hopeless race in the northern hemisphere" vermittelt hätte, verlangte eine Entschuldigung der deutschen Regierung und verkündete, problemlos ein ähnlich unfaires Machwerk über Deutschland produzieren zu können: "Children of the Fatherland" (John O'Donovan, I say this disgraceful production must be withdrawn, The Sunday Press, 7.2.1965). Es gab aber auch anschließend viele, die den Film positiver sahen:
To me, "Children of Eire" was what Mr. Nevin and Mr. O'Keeffe claimed it was: a poet's-eye view of a very real place. What if the poet happens to have a touch of the satirist? We have produced so many poet-satirists ourselves that we cannot reasonably complain. "Children of Eire" was in many ways reminiscent of "Man of Aran". The essential difference was that in shooting the German film the camera was more sharply focussed. (Irish Press, 6.2.1965).
Heinrich Böll erwiderte auf die Kontroverse hin einen Aufsatz ("A reply to the critics of 'Children of Eire", erschienen in der Dubliner Zeitschrift Hibernia im März 1965), worin er seine Darstellung erklärt und rechtfertigt und seiner großen Sympathie für Irland Ausdruck gibt.
In starkem Kontrast zu der begeisterten und andauernden Rezeption des Irischen Tagebuchs und trotz der sehr positiven Aufnahme in Deutschland - und der sehr kontroversen Aufnahme in Irland - war der Film über mehrere Jahrzehnte hinweg in beiden Ländern quasi vergessen. Erst in den letzten Jahren ist er Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung geworden. In Irland selbst ist mittlerweile eine deutlich positivere Rezeption - der Film wurde beispielsweise 2006 bei einem Heinrich Böll Wochenende in Achill Island von einer sehr interessierten Zuschauerschaft gesehen und am Weihnachtstag im selben Jahr zur besten Sendezeit im ersten irischen Fernsehen gezeigt.
Eine ausführlichere Darstellung des Films und seiner Rezeption siehe
Gisela Holfter, From Bestseller to Failure? Heinrich Böll's Irisches Tagebuch (Irish Journal) to Irland und seine Kinder (Children of Eire) in: C. Schönfeld (Hg.): Processes of Transposition: German Literature and Film , Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2007 (15 pages, forthcoming)
Das "Irische Tagebuch" Heinrich Bölls ist in unterschiedlichen Ausgaben lieferbar.
Auf den Internetseiten der Verlage Kiepenheuer & Witsch und dtv bekommen Sie die entsprechenden Informationen zu den lieferbaren Ausgaben.
www. www.kiwi-koeln.de
www. www.dtv.de
Lieferbare Ausgaben bekommen Sie in jeder Buchhandlung und Sie können sie sich auch zuschicken lassen.
Im Hörverlag, München, ist eine CD erschienen, auf der Heinrich Böll selber das "Irisches Tagebuch" liest:
www.hoerverlag.de
Die Aktualität des Werks Heinrich Bölls ist bis heute ungebrochen. Besonders faszinierend ist es, seine Stimme und die Schlichtheit und Authentizität seiner Interpretation zu hören.
"Man fühlt sich seltsam hingezogen zu dieser leicht heiseren, leicht ungelenken und stark den Kölner Dialekt verratenden Stimme, fühlt sich aufgehoben und angesprochen, als wäre man der einzige, eher zufällige Zuhörer." DIE ZEIT
"Bölls Vortrag ist so wenig um glatte Perfektion bemüht wie sein Prosastil." FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
FAQs zu Heinrich Böll:
http://www.heinrich-boell.de/HeinrichBoellFAQ.htm
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